Wieso, weshalb, warum – wer nicht fragt bleibt dumm. So lautet eine Zeile aus der Sesamstraße, die ich als Kind immer gerne gesehen habe und meine aktuellen Fragen als Tanzpädagogin lauten:
- Wieso hat Susi so viel Angst vor neuen Mittänzern, neuen Tanzspielen und neuen Schritten im Kindertanz Unterricht?
- Weshalb kann Paul nicht zur Ruhe kommen?
- Warum sind Ellas Muskeln meistens angespannt?
- Warum spürt Thea ihre eigenen Grenzen nicht?
- Wieso steigert sich bei Jasper die Konzentration nicht?
- Weshalb ist es für Frieda so unglaublich schwer eine Bewegung mit der Wirbelsäule zu erlernen, obwohl sie gerne tanzt und sich ansonsten gut koordinieren kann?
- Warum spürt Hanna so schlecht ihre Füße – obwohl wir an dem Thema Stabilität gearbeitet haben?
Wenn Dir diese oder ähnliche Beobachtungen aus Deinem Tanzunterricht, Deiner Tanztherapie oder in der Schule als Lehrer oder im Kindergarten als Erzieher bekannt sind und Dein pädagogisches Wissen und Deine Unterrichtsmethoden schwer greifen, kann dies vielleicht andere Ursachen haben.
Bestehende frühkindliche Reflexe können eine Ursache für diese Auffälligkeiten sein.
Irmgard Bartenieff, eine Schülerin Labans, hat Babys im ersten Lebensjahr und Erwachsene beobachtet und daraus die sogenannten Bartenieff Fundamentals entwickelt. Sie beobachtete Bewegungsmuster, körperliche Verbindungen, Prinzipien und Themen die jedes Baby, jeder Mensch, in einer gesunden Entwicklung, verläuft.
Muster
- Atemmuster
- Zentrum-Distalmuster
- Spinalmuster
- Homologmuster
- Homolateralmuster
- Kontralateralmuster
Verbindungen
- Basiskörperverbindung/Ganzkörperverbindung
- Mitte-Peripherieverbindung
- Ober-Unterkörpererbindung
- Körperhälftenverbindung
- Diagonalverbindung
Themen
- Stabilität & Mobilität
- Innen & Außen
- Verausgabung & Erholung
- Funktion & Expression
All dies ist im Gehirn angelegt und folgt seinem eigenen Rhythmus. Keiner muss dem Baby sagen, dass sobald es diese Welt als neuer Erdenbürger betritt, das es nun atme solle. Kinder kommen in diese Welt und entfalten sich – sie sind voller Bewegung und haben Freude am Erforschen des eigenen Körpers. Sie wiederholen ihre Bewegungen und irgendwann wenn sie bereit sind für ein neues Bewegungsmuster, machen sie es einfach.
Diese sechs Bewegungsmuster durchlaufen Babys im ersten Lebensjahr auf verschiedenen Ebenen. Zuerst im Liegen, dann kommen sie eine Etage höher ins Sitzen und später dann in den Stand. Fakt ist, dass jedes Bewegungsmuster auf das nächste aufbaut. Mein Kindertanz Unterricht ist stark von Irmgard Bartenieffs Arbeit geprägt und ich kann sehen wie sich die Kinder durch diese Bewegungsarbeit entfalten. Jede Bewegung beruht auf diesen Bewegungsmustern, nicht nur im Tanz, nein auch im Alltag, sogar beim Fußballspielen und bereitet auf komplexere Bewegungsabläufe vor, die gerade im Tanz eine elementare Bedeutung haben.
Wenn nun alles darauf aufbaut:
- Wieso hat Susi so viel Angst vor neuen Mittänzern, neuen Tanzspielen und neuen Schritten im Kindertanz Unterricht?
- Weshalb kann Paul nicht zur Ruhe kommen?
- Warum sind Ellas Muskeln meistens angespannt?
- Warum spürt Thea ihre eigenen Grenzen nicht?
- Wieso steigert sich bei Jasper die Konzentration nicht?
- Weshalb ist es für Frieda so unglaublich schwer eine Bewegung mit der Wirbelsäule zu erlernen, obwohl sie gerne tanzt und sich ansonsten gut koordinieren kann?
- Warum spürt Hanna so schlecht ihre Füße – obwohl wir an dem Thema Stabilität gearbeitet haben?
Welch eine Tragödie. Ich fing an zu forschen … und es könnte mit den frühkindlichen Reflexen zu tun haben.
Doch was sind denn diese frühkindlichen Reflexe?
”Reflexe sind unwillkürliche Muskelreaktionen auf einen sensorischen Stimulus, der über die Sinne empfangen wird und im Gehirn zu entsprechenden Verarbeitungsprozessen führt. Es gibt frühkindliche Reflexe, die dem Säugling das Überleben sichern, wie z.B. den Such-, Saug- und Schluckreflex, ohne den er verhungern würde. Haben die Reflexe ihre Aufgabe erfüllt, können die Haltungsreflexe voll zu Entfaltung kommen. Sie ermöglichen uns einen aufrechten Gang und lebenslang eine angemessene Anpassung an die jeweilige Situation. Es kann passieren, dass ein frühkindlicher Reflex über den ihm von Natur aus zustehenden Zeitraum hinaus aktiv bleibt. Dies äußert sich sich dann in unbewussten motorischen Bewegungen. Zum Beispiel wird bei einer Kopfdrehung nach rechts oder links automatisch der gleichseitige Arm mit nach außen geführt. Dies ist ein Anzeichen dafür, dass der entsprechende Reflexe nicht integriert ist und motorische Restreaktionen auftreten. Muss ein frühkindlicher nicht integrierter Reflex willentlich in seinem Bewegungsmuster kontrolliert werden, so bindet dies viel Energie in bewussten Gehirnarealen, die ansonsten für kognitive Leistungen zur Verfügung stünden. Kinder sind in zunehmendem Maße Streß ausgesetzt und oft ist man als Erziehender ratlos, wie man ihnen gerecht werden soll.”¹
Mit diesen Worten beginnt Bärbel Hölscher ihr Buch, Kraftvoll! Reflexe prägen das Leben*, und nimmt mich mit in die Welt der frühkindlichen Reflexe. Besonders spannend fand ich, dass die Reflexe sich bereits intrauterin (pränatal) ausbilden um auf die Geburt vorzubereiten.
Im folgenden gebe ich einen kurzen Überblick über ein paar Reflexe:
Mororeflex
Der Mororeflex bildet sich schon in der 28. Schwangerschaftswoche aus. Er ist nach dem Arzt Ernst Moro benannt, der ihn erstmal 1918 beschrieb. “Der Mororeflex lässt das Baby direkt nach der Geburt einatmen”¹
Der Mororeflex in Extension – “Beine, Arme und Kopf werden überstreckt, Atem wird eingezogen die Hände und der Rumpf öffnen sich.”¹
Der Mororeflex in Flexion – “Gegenreaktion in Embryonalhaltung, Hände und Arme sind gebeugt, Hände werden zu Fäusten geballt, dann kommt es zur Ausatmung.«¹
Sobald dieser Reflex aktiviert wird, kommt es zu Ausschüttungen von Stresshormonen und Veränderungen der Herzfrequenz und Atemfrequenz.
“Das Reflexmuster stellt eine Angstreaktion dar.”¹
Spinaler Galantreflex
Der Spinale Galantreflex bildet sich schon ca. in der 15. Schwangerschaftswoche aus. Er ist nach dem Arzt Johann Susmann Galant benannt. Er hilft dem Baby sich bei der Geburt zu in die richtige Position zu drehen.
Tonischer Labyrinthreflex – TLR
“Der Tonische Labyrinthreflex – TLR bereitet das Baby auf die Bewegung des Rollens und später auf das Krabbeln auf allen Vieren, auf das Stehen und Gehen vor…. Bei nicht erfolgreicher Integration des Reflexes wird der Körper sich nie entspannen können.”¹
Landaureflex
“Der Landaureflex bildet sich erst ca. 2-4 Monate nach der Geburt aus. Er ist nach dem Arzt Arnold Landau benannt, der ihn erstmal um 1923 beschrieb. „…er beeinflusst die Koordination von unterer und oberer Körperhälfte.”¹
Babinskireflex
Der Babinskireflex bildet sich kurz nach der Geburt aus. Er ist nach dem Neurologen Joseph Babinski benannt, der den neurologischen Hintergrund
erstmals 1896 aufdeckte. Er bereitet die Füße auf das kriechen, krabbeln und stehen vor.
Fliege und Landereflex
Der Fliege und Landereflex bildet sich ca. 1 Monat nach der Geburt aus.
”Der Reflex entwickelt die Fähigkeit zur Kontrolle der Position des Körpers im Raum. Später trägt er dazu bei, das Springen zu erlernen und die Kontrolle der Schwerkraft zu erlangen.”¹
Asymmetrische Tonische Nackenreflex – ATNR
“Der Asymmetrische Tonische Nackenreflex – ATNR „unterstützt die einseitigen homelateralen Bewegungen und die Entwicklung mehrerer kognitiver Systeme, wie z.B. die auditive und die visuelle Wahrnehmung, die Raumorientierung und das Wahrnehmungsgedächtnis.”¹
Symmetrisch Tonischer Nackenreflex – STNR
“Der Symmetrisch Tonischer Nackenreflex – STNR schafft den Übergang von der statischen Lage zum Krabbeln mit Überkreuzbewegungen.”¹
Doch weshalb sind bei einigen kleinen und großen Menschen die Reflexe integriert und bei manchen noch sogenannte Restreaktionen zu sehen?
Hier kann es verschiedene Ursachen haben:
- Vielleicht ist das Kind als Kaiserschnitt zur Welt gekommen oder als Frühchen.
- Vielleicht gab es nach der Geburt keinen physischen Kontakt zur Mutter, der innerhalb der ersten Stunde passieren sollte.
- Vielleicht gab es in der Schwangerschaft Fehlbelastungen oder sehr viel Streß für die Mutter.
- Vielleicht wurde das Kind nur einseitig getragen – oder nur auf eine Körperseite gelegt z.B. nur den Rücken.
- Vielleicht hatte das Baby wenig Raum für freie Bewegungsentwicklung?
- Vielleicht gab es eine Überreizung der Sinne?
- Vielleicht lag das Kind zu viel in einem Maxi Cosi, hatte eine Lauflernhilfe oder wie ich es hier in Berlin schon öfters gesehen habe ein Leine für Kinder um den Bauch zum Laufen lernen.
- Vielleicht hatte der Mensch Angst und so ist wieder ein Reflex ausgelöst worden
- …
Nun sind wir als Tanzpädagogen keine Therapeuten, die in Kleingruppenarbeit oder sogar Einzelsettings arbeiten, nein wir haben zumeist viele Kinder im Kurs!
Wie ist es uns nun möglich, dieses Thema, mit dem sehr achtsam umgegangen werden muss, in eine Tanzstunde oder in den Kindergarten-und Schulalltag zu integrieren?
Das sogenannte Rocking oder auch hin und her wiegen schafft einen gleichbleibenden Rhythmus der für Kinder sehr beruhigend ist – ebenso sind innerhalb der Bewegungsmuster verschiedene Reflexe involviert:
- Atemmuster – Mororeflex
- Zentrum-Distalmuster – Mororeflex in Flexion und Extension
- Spinalmuster – Spinaler Galantreflex & Tonischer Labyrinthreflex
- Homologmuster – Landaureflex & Babinskireflex & Fliege und Landereflex
- Homolateralmuster – ATNR
- Kontralateralmuster – STNR
Mit dem BrainDance können wir auf achtsame und bewußte Weise ein Warm up mit den Kindern machen, er durchläuft die frühkindlichen Bewegungsmuster zur Reduktion von Restreaktionen der frühkindlichen Reflexe, die motorisches, kognitives und soziales Lernen einschränken können. Er schafft Vorraussetzungen für koordiniertes Bewegen und ein Verständnis dafür wie Bewegung funktioniert. Er fördert die Konzentration, schafft neue neuronale Vernetzungen im Gehirn, und macht einfach Spaß.
Zum Schluss noch ein Rätselspaß:
Hast du rausgefunden weshalb Ellas Muskeln zumeist angespannt sind?
Möchtest Du mehr über dieses spannende Thema erfahren?
Dann sei bei der Fortbildung Wieso, weshalb, warum Wieso, weshalb, warum – was haben – was haben frühkindliche Reflexe mit Tanz, Bewegung und Verhalten
zu tun? mit dabei.
Ich würde mich sehr freuen Dich dort zu sehen, zu hören und zu erleben
Deine Stefi
PS:
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¹ Literaturquelle:Bärbel Hölscher – Kraftvoll! Re!exe prägen das Leben
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7 Kommentare
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Ich bin gerade auf der Suche nach mehr Informationen zu diesem Thema und so zu deinem Artikel gekommen. Meine Große 4,5 hat noch mind 3 Reflexe und wir sind seit zwei Wochen in Therapie, mit der kleinen 8 Monate seit letzter Woche.
Ich hätte gern eine solche Tanzgruppe in Frankfurt meine Tochter♥️
Immer wenn ich über dieses Thema lese, kommen mir die Tränen, denn soviel kann den Mäusen erspart bleiben. Wir haben leider erst vor kurzem davon erfahren. Ich hoffe es hilft beiden meiner Töchter
Hallo Saskia,
herzlichen Dank über Deinen kleinen Einblick mit Deinen beiden Töchtern und das diese wunderbare Arbeit Dich gefunden hat. Gerne empfehle ich dir das Buch von Bärbel HölscherKraftvoll! Reflexe prägen das Leben.
Ich wünsche Dir und Deinen beiden Mäusen nun von Herzen alles Gute
Stefi
Hi Celesta,
I´m very glad that I made your day.
Liebe Stefi,
danke für diesen klaren Artikel zu den Reflexen innerhalb der Arbeit mit den BF`s. Sie sind ein wichtiges Element im Entwicklungsprozess und es gibt mehr.
Schau die Säuglingsforschung an, die den Beziehungsaspekt in den Vordergrund schiebt und auch da in den ganz frühen Beziehungen werden schon die wesentlichen neurobliologischen Strukturen gelegt, die unser Beziehungserleben prägen. In vielen Kinderspielen kommen dann solche Aspekte, wie die Integration der Reflexe und das soziale Lernen zusammen. Schau dir mal die Homepage von Bettina Rollwagen an oder auch auf meiner Homepage den Kurs zu Bewegung und Entwicklung. Ich arbeite mit den BF genau an dieser Integration von Körper , Gefühl und Beziehung.
Wie schön das du da auch dran bist. Lieben Gruss Ute Maria Lang
Liebe Ute,
ich danke dir ganz herzlich für dein tolles Feedback.
Ja es gibt so viel herrliches zu entdecken innerhalb der Bartenieff Fundamentals.
Die Beziehungsebene ist auch eine wichtiger Bestandteil meiner Arbeit – sie prägt tatsächlich für das ganze Leben.
Bettina kenne ich, wir waren zusammen auch auf dem Moving from within Kongress.
Gerne schaue ich mal auf deiner Homepage vorbei, Bettina hatte mir schon einmal von Dir erzählt.
Liebe Grüße an Dich,
Stefi
Danke Stefi, besonders für diesen Artikel über die frühkindlichen Reflexe. Er hat mich neugierig gemacht und ich glaube auch, dass er mein bisheriges Verständnis vom menschlichen Nervensystem erweitern kann. Viele liebe Grüße aus Afrika,
Frank
Lieber Frank gern geschehen – für mich selber ist es ein ganz besonders spannendes Thema, in das ich immer mehr eintauche und versuche Verknüpfungen herzustellen. Ich sende dir nun viele liebe Grüße zurück nach Afrika.